"Wenn man in Mailand von Kalbfleisch spricht”, sagt er, “spricht man nur von vitello da late, la carne bianca, bianca alla Milanese. Vom echten Milchkalb also."

 

Kalbfleisch in Italien

Die Italiener sind keine leidenschaftlichen Milchtrinker und zum Essen trinken sie erst recht keine Milch. Daher ist der Bedarf einer Milchproduktion für den direkten Verzehr nie sehr groß gewesen. Rinder haben in Italien somit eine andere historische Bedeutung als beispielsweise in den Niederlanden. Rinder, insbesondere Ochsen, dienten jahrhundertelang vor allem als Zugtiere, was man heute noch an den italienischen Rassen wie Piemontese, Chianina, Demonte, Recconigi und Valdorno erkennen kann. Der wichtigste Grund für eine bescheidene Rinderzucht war merkwürdigerweise die Produktion von Stallmist zur Düngung der Felder. Aus diesem Grund standen die Rinder in manchen Regionen das ganze Jahr über im Stall. Erst im Laufe des 18. Jahrhunderts gewann die Käseherstellung an Bedeutung und somit auch die Produktion von Milch. Früher standen also immer nur relativ wenig Kälber für die Fleischproduktion zur Verfügung. Was aber nicht heißen soll, dass kein Kalbfleisch gegessen wurde. Im Gegenteil, es wurde immer als eine Delikatesse, als das ultimative Fleisch für die Reichen angesehen. Kein Wunder, dass Kalbfleisch nach wie vor einen so guten Ruf hat.

Im Laufe des 18. und des 19. Jahrhunderts entstanden berühmte Kalbfleischgerichte. Vitello tonnato (Kalbfleisch in Thunfischsoße) gab es schon früher, wurde aber erst berühmt durch das 1891 erschienene Kochbuch von Pellegrino Artusi. Bei der kalten Variante wird eine Kalbsbouillon gekocht, die mit püriertem Gemüse und Thunfisch ergänzt wird, sodass eine dünne Soße entsteht. Das Kalbfleisch wird in dünne Scheiben geschnitten und "schwimmt" in dieser Soße, die noch mit Kapern verfeinert wird. Saltimbocca (wörtlich: spring in den Mund) besteht aus dünnen Scheiben Kalbfleisch, welche mit einem Salbeiblatt und mit luftgetrocknetem Schinken belegt oder aufgerollt werden. Die anschließende Zubereitung ist von Region zu Region unterschiedlich; es existieren Hunderte Varianten. Minestra di trippa (Suppe aus Kalbspansen, die mindestens 3 Stunden kochen muss) ist ursprünglich eine alte Neujahrstradition aus Genua und entwickelte sich im Laufe der Zeit zu einem Symbol für bäuerliche Feste. Bollito misto ist eine Art Pot-au-feu aus Piemont mit Rind- und Kalbfleisch aus der Oberschale. Involtini ist eine Roulade aus Kalbfleisch. Piccata sind sehr kleine Kalbsschnitzel, die mit Zitronensaft und Marsala-Wein gelöscht werden. Aber befassen wir uns doch einmal näher mit der berühmtesten italienischen Spezialität: dem Ossobuco. Diesbezügliche Kenner schicken uns dazu in die Via Edoardo Porro, eine Straße, die man nachts lieber meidet.

 

Ossobuco

Unter der Hausnummer 8 finden wir das Restaurant Altra Isola von Herrn Borelli. Es ist eine der allerletzten Adressen in Mailand, wo man noch wirklich traditionell essen kann. Das Interview mit Gianni Borelli führen wir mit Händen und Füßen, denn er spricht weder Englisch noch Französisch und auch kein Italienisch, sondern nur Mailänder Dialekt. Vor siebzig Jahren tat er seine ersten Schritte in der Küche und sah im Laufe der Zeit die Esstraditionen seiner Stadt systematisch verschwinden. Deshalb beschloss er 1962, sich ganz und gar diesen Traditionen zu widmen. Mit vielen Gesten erläutert der Altmeister, dass man aus Kalbfleisch sehr viele Gerichte zubereiten kann. Costeleta à Milanesa zum Beispiel, eine Art Kalbsschnitzel. Oder Manzo brasatto, ein Ragoût mit Barolo. Und nicht zu vergessen Trippa al forno, Kalbsinnereien, die in einem Topf mit Gemüse gegart werden. Wir sind allerdings für das Ossobuco gekommen, zu dem Herr Borelli uns auch einiges zu sagen hat. Zunächst möchte er ein Missverständnis aufklären. Wer hat sich jemals ausgedacht, dass man für dieses Gericht Tomaten, Sardellen oder sogar Orangen bräuchte? Vollkommen falsch. Natürlich könne man diese Zutaten verwenden, aber dann solle man das Gericht doch bitte nicht als Ossobuco milanese bezeichnen! Eine dumme Frage vielleicht, aber macht es etwas aus, welche Kalbshaxe man verwendet? Herr Borelli schaut uns voller Verzweiflung an. “Wenn man in Mailand von Kalbfleisch spricht”, sagt er, “spricht man nur von vitello da late, la carne bianca, bianca alla Milanese. Vom echten Milchkalb also.” In der Küche steht Chefkoch Hu Shun Feng bereit, um uns die Zubereitung vorzuführen. Obwohl sein Name uns nicht gerade italienisch vorkommt, steht er seit vielen Jahren neben Borelli und die Mailänder Küche hat für ihn keine Geheimnisse mehr in petto. Er erklärt uns, wie man ein Ossobuco zubereitet. Das Fleisch muss zuerst auf beiden Seiten in Olivenöl scharf angebraten werden. Danach fügt man Möhren, Zwiebeln, Sellerie, Knoblauch, Lorbeerblätter und getrocknete Pilze hinzu. Die Zutaten werden in der Pfanne angeschwitzt und danach mit etwas Mehl bestäubt. Das Ganze wird mit Weißwein gelöscht und anschließend mit Wasser aufgefüllt. Man fügt Salz und Pfeffer hinzu und lässt alles zwei Stunden garen. Und was servieren wir dazu? “Ein Risotto alla milanese natürlich, mit Safran!”

 

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