Rosa oder Rosé

Im Laufe der 1980er-Jahre war Kalbfleisch in den nördlichen Ländern Europas zu einem echten Problem geworden und sein schlechter Ruf erreichte einen Höhepunkt. Die Verbraucher in südlichen Ländern wie Frankreich und Italien zeigten sich davon weitgehend unberührt. Die Folgen mehrerer Hormonskandale und heftiger Protestaktionen von Tierschützern wurden in den nördlichen Ländern noch einmal verstärkt durch die Einführung von Milchquoten, wodurch die Preise der Milchkälber stiegen. Die Situation verlangte nach Besinnung. Einige idealistische, selbstständige Kälberhalter gründeten neue Initiativen, die sich für einen anderen Umgang mit dem Kalb einsetzten. Leider hatte man sich von Anfang an nicht richtig positioniert. Rosa Kalbfleisch wurde allgemein als ein minderwertiges Produkt angesehen.

Friander

Die niederländische Genossenschaft Sloten wollte es ganz anders anpacken. Das Führungsduo, bestehend aus dem Strategen Jan Zeinstra und dem stark marktorientierten kreativen Geist Henny Swinkels, legte die Basis für ein neues System: Friander. Das war nicht einfach so eine Marke oder ein Label, sondern das Ergebnis einer Philosophie und einer marktorientierten Herangehensweise, in deren Mittelpunkt die Wünsche der westeuropäischen Verbraucher standen. Was wollten diese Verbraucher? Große Aufmerksamkeit für artgerechte Tierhaltung und Umweltschutz, wasserdichte Garantien für Lebensmittelsicherheit und vollständige Rückverfolgbarkeit. Friander sollte all diesen Anforderungen entsprechen. Es wurde ein Projekt, dessen Entwicklung mehrere Jahre in Anspruch nahm. Es begann mit Lastenheften, die von einem eigens dafür bestimmten Tierarzt streng kontrolliert wurden. Auf der Grundlage von artgerechter Tierhaltung suchte man nach den idealen Aufzuchtbedingungen für das Kalb, mitten in einer Zeit, da die Kälberbranche von Tierschutzorganisationen heftig attackiert wurde. Wie sahen die idealen Bedingungen für die Kombination von optimaler artgerechter Haltung und hervorragendem Fleisch aus? Wissenschaftler wurden mit einbezogen, aber auch Menschen aus der Praxis. Als das Projekt vollständig abgerundet war, veranstaltete man ein großes Fest für alle Kälberhalter und Mitarbeiter. Diverse bekannte Chefköche präsentierten Friander in einer Vielzahl von köstlichen Zubereitungen, was wiederum diverse Kälberhalter dazu motivierte, über eine neue Zukunft nachzudenken. Der Absatz von Friander war zunächst sehr begrenzt und es wurden nur Spitzenrestaurants beliefert. Aber die Marke dehnte sich systematisch aus und neue Ställe wurden in das Produktionssystem aufgenommen. Heutzutage spielt Friander in Ländern wie den Niederlanden, Belgien, Deutschland und Spanien eine wichtige Rolle. Andere Länder, zum Beispiel Frankreich und Italien, bleiben weiterhin bei ihrer fanatischen Vorliebe für weißes Kalbfleisch. Wenn in einem französischen Supermarkt rosa Kalbfleisch angeboten wird, handelt es sich fast immer um ein Sonderangebot. Das gilt übrigens in erheblich geringerem Maße für die französische Gastronomie, welche die vorzüglichen Eigenschaften von Friander sehr wohl akzeptiert hat.

Friander wurde in erster Linie aus Idealismus geboren, es entwickelte sich zu einem Produktionssystem ohne Kompromisse und zu einer Fleischsorte mit einem eigenen Charakter. Aber die Entwicklung verlief nicht immer reibungslos, allein die zu leistende Überzeugungsarbeit bezüglich der richtigen Kälberhalter war eine groß angelegte Aktion. Die Bauern mussten davon überzeugt werden, ihre Ställe umzubauen, damit das neue System eingeführt werden konnte. Und das im Jahr 1989! Zum Glück zeigte sich eine ausreichende Anzahl von Kälberhaltern zu diesem Experiment bereit und wurde von dem neuen Elan angesteckt. Im Nachhinein bildete Friander innerhalb der Kälberbranche den Auftakt zu einer neuen Zeit, in der man ein offenes Ohr für Chefköche und Verbraucher hat. Nicht die Produktion zählt, sondern ausschließlich die Qualität und die zugrunde liegende Philosophie. Natürlich brachte das für den Produzenten angemessene und realistische Preise mit sich. Die Philosophie hinter Friander ist heutzutage fast Gemeingut geworden, aber Ende der Achtzigerjahre war sie einfach einzigartig.

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