Zartheit

Nicht jedes Fleisch ist gleich zart. Logisch, denn Fleisch besteht aus Muskeln und nicht alle Muskeln werden zu Lebzeiten des Tieres in gleicher Weise beansprucht. Bei jedem Tier ist das Filet am zartesten. Das Filet ist ein Fluchtmuskel und flüchten müssen Kühe, Schweine oder Kälber nicht, weshalb dieser Muskel überhaupt nicht zum Einsatz kommt. Muskeln, die mehr arbeiten müssen, sind beispielsweise Schulter und Keule. Muskeln, die sehr stark beansprucht werden, sind Wangen und Nierenzapfen (Teil des Saumfleisches, Onglet). Fakt ist, dass Muskeln, die mehr gearbeitet haben, auch besser schmecken. Wahre Fleischliebhaber entscheiden sich deshalb nicht für das Filet, sondern sind verrückt nach Nierenzapfen und lassen sich Kalbsbäckchen schmecken. Durch die Jahrhunderte hindurch haben die Liebhaber von Fleisch nach der idealen Kombination von sehr zart und sehr lecker gesucht. Unsere Großmütter legten das Fleisch aus der Keule einige Stunden in eine Mischung aus Joghurt und Milch oder auch in Butter ein. Natürlich kann man auch Gewalt anwenden und damit die Muskelfasern zerstören. So geschieht es beispielsweise beim Klopfen eines Schnitzels. Auch mehrstündiges Schmoren bewirkt eine Auflösung der Muskelfasern. Jeder Metzger (und echter Gastronom) weiß, dass Schneiderichtung und Fleischdicke von essenzieller Bedeutung sind und dass in Speck eingewickeltes Fleisch wunderbar zart wird. Und dann gibt es noch ein Hausmittelchen, dass wir uns in Südamerika abgeguckt haben: Papain. Dieses Enzym ist unter anderem in Papaya und Ananas enthalten und gilt als "Weichmacher" für Fleisch. Wir verwenden es in Marinaden. Auch das sogenannte Dry Aging, also das Abhängen von Fleisch, dürfen wir nicht vergessen, eine Technik, die in den USA häufig angewandt wird. Und schließlich gibt es noch die Fleischmassage, die heutzutage von Hightech-Massiermaschinen übernommen wird.

Die vielen Techniken und Tricks zeigen, dass man sich weltweit schon immer mit dem Weichmachen von Fleisch beschäftigt hat, immer auf der Suche nach der idealen Kombination von Geschmack und Zartheit. Nun ist es um die Zartheit von Kalbfleisch zum Glück bestens bestellt, denn schließlich ist das Fleisch von Jungtieren automatisch zarter und delikater als das von älteren Tieren. Wir wollten aber dennoch einmal die Probe aufs Exempel machen und besuchten Mikel Pouw, den Amsterdamer Gastronomiemetzger, der unter dem Namen Nice to Meat ein Pionier hinsichtlich der Technik des Dry Aging ist. Das Prinzip des Dry Aging besteht darin, dass ein Stück Fleisch, meist Rindfleisch, für die Dauer von drei bis vier Wochen in einem Raum mit hoher Luftfeuchtigkeit, guter Ventilation und einer Temperatur von 4°C gelagert wird. Das Fleisch trocknet dann aus und erhält äußerlich eine fast schwarze Farbe. Beim Eintrocknen übernehmen die von Natur aus im Fleisch vorhandenen Enzyme die Auflösung der Muskelfasern. Die Folge dieser bereits von den Indianern angewandten, amerikanischen Technik ist, dass das Fleisch mehr Geschmack bekommt und zugleich zarter wird. In einer Stadt wie New York spielt Dry Aging schon seit Langem eine große Rolle. Logisch, wenn man bedenkt, dass im weiten Umkreis der Stadt keine Kühe laufen und dass das Fleisch früher in ungekühlten Eisenbahnwaggons über lange Entfernungen transportiert werden musste.

Überall in Europa gibt es bereits Fleischrestaurants, die ihren Gästen offen abgehangenes Fleisch servieren. Dry Aged Beef ist sehr teuer, weil viel kostbare Flüssigkeit verloren gegangen ist. Nach Meinung von Mikel muss man das allerdings anders sehen. Weil das Fleisch beim Abhängen bereits so viel Wasser verloren hat, wird dafür in der Pfanne keine Flüssigkeit mehr austreten. Was also nach dem Braten übrig bleibt, ist bezüglich des Gewichts durchaus mit gebratenem Frischfleisch vergleichbar. Aber der Geschmack hat sich gesteigert. Die Chefköche, die bei Nice to Meat ihr offen abgehangenes Fleisch kaufen, bezahlen das Fleischgewicht vor der Trocknung. Aus reinem Interesse baten wir Mikel, ob er diese Technik einmal bei Kalbfleisch anwenden könne. Wie gesagt, eigentlich überflüssig, weil Kalbfleisch kaum zarter werden kann. Wir wollten in erster Linie wissen, ob und wie sich der Fleischgeschmack verändert. Fachmann Winfried van Wijk wählte ein Rippenstück aus, sowohl von einem Milchkalb als auch von einem Jungrind und ließ das Fleisch genau 3 Wochen im Dry-Aging-Schrank hängen. Das Steak vom Jungrind wog ursprünglich 4.500 g, nach 3 Wochen waren es noch 3.786 g. Der Gewichtsverlust betrug also 15,9 %. Das Rippenstück vom Milchkalb wog am Anfang 5.680 g und davon blieben 5.170 g übrig. Der Gewichtsverlust betrug hier 9 % und somit erheblich weniger. Das Jungrindfleisch war äußerlich fast schwarz geworden und hatte innen eine violette Fleischfarbe. Beim weißen Kalbfleisch hatte sich die Fleischfarbe nur wenig verändert. Aber der Geschmack! Man schmeckt deutlich mehr Kalbfleisch und das Fleisch ist nach wie vor herrlich saftig. Die Zartheit sorgt dafür, dass man das Fleisch sozusagen mit dem Löffel schneiden kann.

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