Kalbfleisch aus Mutterkuhhaltung

Um einen Eindruck dieses typischen Produktionssystems von Kalbfleisch zu bekommen, begeben wir uns tief ins französische Inland, ins Département Lot, östlich des Périgord. Jacques Laborie, der in dem kleinen Ort mit dem treffenden Namen Bétaille (bétail bedeutet Vieh) wohnt, übernimmt heute gern die Rolle des Fremdenführers. Er wuchs zwischen den Kälbern auf und wurde, wie zuvor sein Vater, Viehhändler. Sein System ist ganz einfach. Er kauft fette Kälber von Bauern aus den Départements Lot und Corrèze und bringt diese viermal pro Woche zum Schlachthof nach Saint-Céré. Alle Schlachtkörper sind für einen einzigen Abnehmer bestimmt: für die Firma Deplanche-Laubery in Rungis. Jacques hat sogar eine eigene Fleischmarke mit dem Logo: Le Veau Laborie. Im Büro unseres Gastgebers stapeln sich die Unterlagen und mehrere Telefone klingeln unaufhörlich. In seinem großen Versorgungsgebiet wohnen etwa hundert Bauern, die sich auf die Produktion von Kalbfleisch aus Mutterkuhhaltung spezialisiert haben. Er kennt sie alle und besucht sie regelmäßig. Jacques möchte nur die allerbesten Kälber, und die Tiere, die er kauft, müssen mindestens zur Kategorie U gehören, haben aber meist die Kategorie E, was eine Fettabdeckung von 2 oder 3 bedeutet. "Kalbfleisch ist der Kaviar unter den Fleischsorten", sagt er, "und in Bezug auf die Qualität ist der Bauer der ausschlaggebende Faktor." Beim Kaffee erläutert er uns die Hintergründe. Alle Bauern arbeiten traditionell nach bäuerlichem Handwerk, genauso wie vor 50 Jahren. Die meisten produzierten neben Kälbern auch Tabak. Aber weil die EU die Subventionen für Tabak größtenteils eingestellt hat, wird dieser kaum noch angebaut, weshalb die Bauern ihren Viehbestand ausweiten. Im Durchschnitt liefern sie 30 bis 40 Kälber pro Jahr. Wir steigen zu Jacques ins Auto, um einige Bauern zu besuchen. In dem Dörfchen Le Moninie, direkt am Fluss Dordogne und im Schatten der imposanten Burg Castelnaud gelegen, treffen wir Jean-Claude Sourzat. Auf seinem Hof stehen 30 Muttertiere zusammen mit dem Stier Pompon auf der Wiese, die alle zur Rasse Limousin gehören. Jean-Claude baut selbst das Getreide und den Mais an, mit denen die Kühe zugefüttert werden. Die Kälber stehen immer im Stall, der mit einer Schicht Stroh ausgelegt ist. Es ist Abend und die Kühe begeben sich ebenfalls in den Stall, immer in derselben Reihenfolge. Drinnen stellen sie sich an ihren angestammten Platz, und danach werden die Kälber losgelassen. Diese rennen sofort auf ihre Mutter zu und beginnen gierig zu trinken. Wenn eine Kuh nicht genug Milch gibt, bekommt das Kalb eine Tante zugewiesen. Während die Mütter und die Kinder miteinander beschäftigt sind, kümmert sich der Bauer um den Stall, mistet aus und führt frisches Stroh an. Sobald alle Mägen gefüllt sind, werden die Kühe in einen anderen Stall verlegt. Am nächsten Morgen dürfen sie wieder zu ihren Kindern und anschließend können sie raus auf die Wiese. Jean-Claude erläutert, dass er den ganzen Tag mit den Tieren und den dazugehörenden Arbeiten beschäftigt ist und niemals Urlaub macht. "Es ist schwierig, diese Arbeit einem anderen zu übertragen. Die Beziehung zwischen den Kühen und ihren Kälbern kann man Dritten nicht erklären. Es ist reine Leidenschaft." Die Ställe sind uralt und die Stalltür ist mit vielen bunten Schildchen von ausgezeichneten Kühen bedeckt. "Ich werde diese Ställe niemals abreißen, das Klima ist einfach perfekt. Wir haben hier seit drei Jahren keinen Tierarzt mehr gebraucht." Limousins sind pflegeleichte Kühe, die ohne Probleme und Hilfe kalben. Das neugeborene Kalb bleibt acht Tage bei der Mutter in einem separaten Teil des Stalls. Händler Jacques Laborie: "Wenn die Kälber etwa viereinhalb Monate alt sind, kaufe ich sie." Er kneift in ein Stückchen Fett neben dem Schwanz eines Kalbs, um zu prüfen, ob es schlachtreif ist. Weibliche Kälber sind schmackhafter als Stiere, findet er, ihr Fleisch sei saftiger. "Trinke dazu einen kräftigen Cahors und du wirst begeistert sein". Jean-Claude tätschelt eine der Kühe auf der Schulter. "Béatrice ist schon achtzehn Jahre alt und macht immer noch das, was sie machen soll. Sie ist eine gute Mutter und Tante."

Wir haben nun also einen traditionellen Bauern besucht, aber Jacques möchte uns nun auch einen modernen Betrieb zeigen. Um zu Vater und Sohn Gérard und Sébastien Besombes ins Dörfchen Le Bousquet zu gelangen, müssen wir uns mit dem Auto über enge Bergpfade hochschlängeln. Hoch oben auf einem Berg mit einer atemberaubenden Aussicht, haben sie 2006 eine brandneue Stallanlage mit modernster Technik gebaut. Eine an der Mauer angebrachte Tafel weist darauf hin, dass die EU hier zu den Wohltätern gehörte. Die 43 Hektar Land, die diesen Hof umgeben, sind komplett für dieses Produktionssystem reserviert: fette Wiesen, Getreide und Heu. Auf der Wiese stehen 50 Muttertiere und 15 Jungtiere, die erworben wurden, um den Bestand zu erweitern. Bei Vater und Sohn Besombes stehen immer zwischen 16 und 24 Kälber im Stall. Wie viel trinken die Kälber? 4 bis 5 Liter Milch am Tag. "Das ist nicht viel, aber man muss bedenken, dass eine Kuh der Rasse Limousin die fetteste Milch gibt", sagt Gérard. Wenn die Temperatur im Stall auf über 23 °C klettert, erhalten die Kälber automatisch Wasser dazu. Kühe lieben Pünktlichkeit. Sie wollen immer um exakt die gleiche Zeit zu ihren Kindern: Um halb sieben morgens und um halb sieben abends. Sollte der Bauer sich zwei Minuten verspäten, fangen alle aus Protest laut an zu muhen.

Wir sind noch nicht fertig für heute, denn Pierre Destic, der Bürgermeister von Saint-Céré, möchte uns noch seinen ganzen Stolz zeigen: einen brandneuen Schlachthof. Da die europäischen Anforderungen immer höher wurden, haben fast alle regionalen Schlachthöfe ihre Pforten für immer geschlossen. Bürgermeister Destic allerdings hatte die Bedeutung des Produktionssystems Kalbfleisch aus Mutterkuhhaltung für die regionale Wirtschaft und die Arbeitsplätze erkannt und ließ einen neuen Schlachthof bauen, der nahezu speziell für Kälber eingerichtet wurde. Hier werden jährlich höchstens 4.500 Tonnen geschlachtet. Der Schlachthof ist also klein. Destic: "Aber er gibt den Bauern einen wichtigen Impuls. Der Schlachthof bietet 26 Menschen Arbeit und weitere 80 haben dadurch einen indirekten Arbeitsplatz. Und nicht zu vergessen, wir setzen hier Qualitätsmaßstäbe, denn unser Kalbfleisch wird sogar in Paris sehr geschätzt." Neben dem Schlachthof findet jeweils am 1. und am 3. Freitag im Monat ein Viehmarkt statt, wo neben Kälbern auch einige Kühe und Schafe verkauft werden. Zweimal jährlich herrscht hier Hochbetrieb, denn dann findet die Körung der Kälber statt. Dabei geht es den Bauern mehr um die Ehre der Auszeichnung als ums Geld, denn der Hauptpreis beträgt nur 50 Euro.

Zurück im chaotischen Büro von Jacques Laborie brennt uns noch eine Frage unter den Nägeln. Wie kann ein Bauer überleben, wenn seine gesamte Jahresproduktion nur aus 30 bis 40 Kälbern besteht? Nun, die Kälber bringen erstens einen relativ hohen Preis ein. Der Schlachtkörper wiegt 165 kg, bei einem Schlachtkörperpreis von € 12,50 bis € 15,50 pro kg. Außerdem, so Jacques, hätten die Bauern einen niedrigen Lebensstandard, sie würden sich mit wenig zufrieden geben. Und nicht zuletzt werden die Bauern von der EU finanziell unterstützt. "Ohne Subventionen hätte hier niemand eine Existenz."

Kalbfleisch aus Mutterkuhhaltung wurde 1971 als erstes mit dem Label Rouge ausgezeichnet. Das ist ein staatliches französisches Gütesiegel, das mit bestimmten Bedingungen und Auflagen verknüpft ist. Wir treffen an diversen Orten im französischen Südwesten auf dieses Produktionssystem, von der Auvergne bis ins Baskenland. Insgesamt betrifft es in Frankreich 4.500 Bauern, die zusammen 30.000 Kälber pro Jahr abliefern. Zu der Kette gehören 30 Schlachthöfe, 50 Viehspediteure, 75 Großhändler und 900 Verkaufsstellen, von denen 700 klassische Metzgereien sind. Dass die oben genannten Spezialisten zu dieser Kette gehören, hängt damit zusammen, dass das Label Rouge strenge Anforderungen an alle Fachleute stellt, vom Bauer bis hin zum Einzelhändler. Sie werden von unabhängigen Stellen kontrolliert. Innerhalb des Produktionssystems, aber außerhalb des Label Rouge werden jährlich weitere 85.000 "Boutards" geschlachtet. Das sind Kälber, die von Frühlingsbeginn bis spät in den Herbst hinein auf der Wiese gestanden und somit einen anderen Fleischcharakter haben.

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